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So hatte ich mir meine Ferien eigentlich nicht vorgestellt. Ich schaute auf mein Ich, das da zusammengekrümmt vor dem grossen, schwarzen Reifen eines Lasters lag. Irgendwelche Leute wuselten herbei, redeten aufgeregt. Hilferufe wurden laut. Ich fand das äusserst seltsam und war krass überfordert mich da inmitten dieser Unfallszenerie liegen zu sehen und dennoch irgendwie hier zu stehen. Da tippte jemand an meine Schulter. „Hi, ich hol dich ab.“ Ich sah mich um. Ein junger Mann, nicht viel älter als ich vermutlich, stand hinter mir. Ich musste ihn ziemlich belämmert angesehen haben. „Lass uns gehen.“ Er nahm mich bei der Hand und zog mich fort. Wir gingen quer durch eine Häuserwand und ich hörte nur noch von ferne die Sirenen der Ambulanz. Willenlos liess ich mich von dem wildfremden Typen führen. Hinter der Häuserwand kam so eine Art Irrgarten. Ich liess seine Hand auf keinen Fall mehr los. Hier käme ich allein nie wieder heraus. Hohe graue Mauern führten unseren Weg. Aber wohin? „Du kommst in die Academy.“ sagte er. Ich fragte mich, ob der meine Gedanken lesen kann. „Ja kann ich.“ erwiderte er trocken. Langsam wurde mir mehr als unheimlich. War ich tot oder was war los? „Ja bist du.“ ich hätte ihn langsam würgen können für seine typisch männliche Fast-Wortlosigkeit. Er grinste mich an. „Wir sind da.“

Tatsächlich standen wir vor einer Art Tor. Also eigentlich war es eine Flügeltüre. Da standen wir. Er machte keine Anstalten sich zu bewegen. Ich guckte ihn mit einem grossen Fragezeichen im Gesicht an. Aber von ihm kam nichts. Und weil ich Rechtshänder bin – naja war – öffnete ich also die rechte Flügeltüre mit der rechten Hand. „Okay, dann halt das.“ Er quetschte sich an mir vorbei durch die Türöffnung und zog mich am Ärmel mit. „Das ist die Abteilung für unglaubliche Dummheit.“ Ich zog meine Augenbrauen hoch und einen Flunsch. Was sollte das werden? „Du hast für die nächsten 14 Tage einen Ferienjob kassiert.“ Ich runzelte ungläubig die Stirn. „Hä?“ „Du bist doch 17 und 3 Monate und 7 Tage alt, oder?“ Was hatte das nun wieder womit zu tun? „Teenager kommen meist in die Abteilung für unglaubliche Dummheit. Hat übrigens nichts mit der Türe zu tun, nur mit dir selber.“ Während wir durch einen Flur liefen, an dessen Wände sehr seltsame Bilder hingen, fragte mich langsam was das alles sollte. „Traumbilder.“ Kam seine Antwort ungefragt. Und schon standen wir vor einer Art Empfangsschalter. „Okay, mach’s gut und bis bald.“ Und weg war er. Und ich stand da wie ein Ölgötz.

Dann kam eine aufgebretzelte Tussi. Sie machte ein pinkfarbenes Schmollmündchen als sie mich musterte. „Äh sorry, aber ich glaube ich gehe jetzt besser nach Hause.“ „Das hingegen glaub ich wieder nicht.“ säuselte sie mich an. „Ausser du willst, dass deine Eltern den ultimativen Schock kriegen.“ „Hä?“ „Du liegst in Koma, Süsse. Irgendwo in einer Klinik in der Stadt. Und deine Eltern besuchen dich dort. Denkst du die freuen sich, wenn sie nach Hause kommen und dich als Geist dort vorfinden?“ „Geist?“ ich musste ziemlich blöde aus der Wäsche geguckt haben. „Komm bitte mit, als erstes finden wir mal etwas Passendes für Dich zum anziehen.“ Ich wollte aber nichts Passendes zum anziehen. Ich sah an mir herunter. Meine Klamotten waren doch ganz cool. Und die paar Löcher machten das ganze nur noch authentischer. „Nichts da, hier in der Academy laufen wir nicht so rum.“ „Aber so wie du, was?“ dachte ich mit einem leichten Anflug von Gehässigkeit. „Ja, so wie ich.“ Wir traten durch eine Tür und kamen in ein Ankleidezimmer. Da hingen tatsächlich ähnliche Scheusslichkeiten wie meine Führerin hier trug. „Da das müsste dir passen.“ Sie hielt mir eine weisse Hose und ein hellblaues Shirt vor die Nase. „Das würde dir so passen.“ Dachte ich bei mir. „Das auch.“ meinte sie trocken und pflanzte sich vor mich hin. Sie würde mich wohl nicht gehen lassen ohne Kleidungswechsel. Na schön, dann halt. So zog ich mich eben um. „Ich bringe dich gleich in den Essenssaal, es ist ja gleich Mittag.“ Und wir wanderten den Gang entlang, Treppen hinunter, rechts herum, links herum, Treppe hinauf und dann standen wir tatsächlich in der Tür eines wirklich grossen Saals voller Tische und Stühle. Und schon kamen die ersten Jungs und Mädels hereingeströmt. Meine Begleiterin winkte und fuchtelte und rief: „Maya, hier ist die neue.“ Und während Maya auf uns zu kam, sagte Miss Bretzel zu mir: „Und reiss dich zusammen mit deiner Denkerei. Geht ja mal gar nicht.“ Und schon machte sie sich davon. Maya kam strahlend auf mich zu: „Hi Steph.“ Sie gab mir die Hand. „Komm einfach mit, ich mach dich mit deiner Gruppe bekannt.“ Sie lief vor und ich beeilte mich. Vor einem Tisch mit drei Mädchen und zwei Jungs machte sie halt. „Das ist die Neue. Steph. Seid nett zu ihr. Sie bleibt zwei Wochen.“ Und zu mir gewandt: „Das ist Coco, Tanja, Susi, Gregor und Pete. Coco wird dir den Rest erklären.“ Damit verliess sie uns. Die fünf beäugten mich. Misstrauisch oder freundlich? Schwer zu sagen. „Hi.“ sagte ich etwas gequetscht und setzte mich verlegen auf den noch freien Stuhl. „Hi“ sagte der Chor. Wir schwiegen uns an. Das Essen kam. „Okay, hau rein. Du bist sicher hungrig oder?“ Coco grinste. Ich grinste zurück und langte zu. „Nichts berauschendes hier, mehr so ne Art Show, damit wir das Essen nicht verlernen oder so.“ „Aha.“ Ich trank einen Schluck Wasser. Coco drückte Susi einen Zettel in die Hand und sagte: „Du nimmst Steph mit.“ Dann gab sie den übrigen auch einen Zettel. Ich war mehr als nur neugierig, aber ich traute mich nicht so recht zu fragen. „Wenn du nicht fragst, wirst du auch keine Antworten erhalten.“ flüsterte Tanja mir zu. Konnten hier eigentlich alle Gedanken lesen, nur ich nicht? „Yep.“ Sagte Pete trocken. Ich nahm mir vor den Mund und die Gedanken zu halten. „Funktioniert nicht.“ Grinste Gregor. „Ging uns allen so am Anfang. Aber du bleibst ja nicht lange.“ Er schaufelte den letzten Bissen hinunter. Und schon standen alle auf. „Komm mit.“ sagte Susi. Und während wir durch lange Flure, treppauf und –runter bis zum grossen Tor gingen, klärte sie mich ein wenig auf. „Das ist die No-Angels-Academy. Hier landen alle Teenager die im Koma liegen, bei denen vermutlich sicher ist, dass sie tendenziell wieder aufwachen. Ich bin schon seit sechs Wochen hier. Na und damit wir uns nicht so langweilen, haben wir hier so eine Art Ferienjob. Die Abteilung für mysteriöse Fälle ist sicher interessanter als unsere hier. Aber du wirst sehen, ab und zu ist es hier ganz lustig. Fun haben die drüben weniger.“ Ich verstand nur Bahnhof. Aber immerhin redete mal jemand etwas mehr mit mir. Wir gingen durch den Irrgarten. Sie erklärte mir, wie ich mich künftig allein darin zurechtfinden würde. „Du gehst immer den unteren Kerben entlang raus, und den oberen Kerben entlang rein. Eigentlich super easy. Die tun aber gerne so geheimnisvoll hier.“ Sie kicherte und wir gingen durch eine Wand und standen auf einem Gehsteig. „Ich glaube wir müssen rechts lang.“ Sie schob mich rechts um die Hausecke. Am Ende der Strasse, die sich dort gabelte, stand eine Kirche. „Da müssen wir hin. Du wirst begeistert sein. Da war dein Unfall echt kein Spektakel dagegen.“ Sie öffnete die Kirchentür, zog mich mit sich hinein und wir setzten uns auf eine Kirchenbank in der Mitte.

Es dauerte nicht lange und ein ultra cooler, schwarz angezogener Typ kam herein. Lässig hingen ihm die Fransen ins Gesicht. Allerdings sah sein Gesicht nicht halb so cool aus. Er wirkte eher düstertraurig und fahrig. „Willst du?“ Susi streckte mir eine Bonbontüte hin. „Naschen ist zwar nicht erlaubt, aber scheiss drauf. Zu so einer Show, passt was Süsses.“ Ich verstand grad nur mal wieder Bahnhof und Susi kicherte hinter vorgehaltener Hand. Der Typ stieg die hölzerne Empore hoch auf die Kanzel. „Mal sehen ob und wie lange es dauert.“ Susi ging mir etwas auf den Nerv mit ihren Anspielungen. Und dann auf einmal sprang der Idiot von der Kanzel. „Ist der nicht oberpeinlich?“ Susi grinste stand auf und ging auf den leblosen Leib, der sich über die Bank unter der Kanzel krümmte, zu. Ich folgte ihr. Beinahe hätte mich der Schlag getroffen. Der Typ lag da, ziemlich schräg und verdreht auf der Bank und gleichzeitig stand er neben sich. Susi tippte ihn an die Schulter. „Hi, ich hol dich ab.“ Er drehte sich zu uns um. „Lass uns gehen.“ Sagte Susi, nahm in bei der Hand und bedeutete mir zu folgen.

Und so brachten wir ihn ans Tor. Er kam in unsere Abteilung. Am Empfang sass diesmal eine etwas ältere Frau, die nahm ihn in Empfang. Susi nahm mich bei der Hand und unter irgendwelchem Geplapper führte sich mich wieder in den grossen Saal. „Machen wir eigentlich noch mehr hier ausser Komatöse abschleppen und essen?“ frage ich, als wir uns an den Tisch setzten. Coco und Gregor sassen dort schon. „Nö.“ „Und schlafen tun wir wo?“ Es schienen sich alle glucksend zu verschlucken. „Hascherl, du schläfst doch genug im Koma, was willst du hier auch noch schlafen?“ Ich muss ziemlich überfordert ausgesehen haben. „Wir machen Party abends, ausser wir haben einen Job.“

Es wurde ne echt krasse Party an meinem ersten Abend. Blöd nur, dass der Alkohol weder schmeckte noch einfuhr. „Das liegt am Koma.“ Cool daran war aber, dass wir uns volllaufen lassen konnten ohne Nachwirkungen. Aber das war eben nur der halbe Spass. So liessen die meisten das mit dem Alkohol mit der Zeit von allein bleiben. Aber Kerzen, coole Music, viel Tanzen und ein Haufen Teenager aller Sorten und Macharten. Voll krass.

Am dritten Tag erhielt ich meinen ersten eigenen Zettel und durfte meinen ersten eigenen Kunden alleine abholen. Mein erster war etwas ausserhalb der Stadt am Fluss. Der Idiot wollte sich von der Brücke stürzen, hatte aber in der Hektik und Aufregung vergessen die Wassertiefe nachzugucken. Und so legte er sich über einen Stein, der knapp unter der Wasseroberfläche verborgen war. Ich musste durch das Wasser waten, so ein Mist. Dann tippte ich ihn an die Schulter. „Hi, ich hol dich ab.“ Er drehte sich zu mir um, mit einem dicken fetten Fragezeichen im Gesicht. Ich genoss seine Verwirrung. „Lass uns gehen.“ Sagte ich und nahm in bei der Hand. Ich war echt stolz, dass ich den Weg durch die Hauswand und den Irrgarten so problemlos schaffte. Ich war doch kein solcher Looser wie mein Vater mir immer einzureden versuchte. Am Empfang sass immer mal wieder eine andere Tussi, Frau oder Dame. Je nachdem. Teilzeit Jobs, wurde mir erklärt.

Langsam gefiel es mir richtig gut. Ausser die Nacht-Einsätze. Die fand ich nicht so der Bringer. Ich machte lieber Party als nachts irgendwelche einsamen Seelen einzufangen und zur Academy zu bringen. Ich hatte in den 14 Tagen 9 Selbstmörder, 4 Unfälle und 1 Mord den ich abholte. Das war echt peinlich und wirklich ein Fall für die Abteilung für unglaubliche Dummheit. Aus Eifersucht wollte Barb ihre Ex-Freundin Andrea mit einer Spinne erschrecken. Nur weil die eine der anderen den Freund abspenstig gemacht hatte. Blöderweise hatte sich Andrea dermassen erschreckt, dass sie hintüber auf ein Brett fiel, mit dem Kopf voll auf einen Nagel auf dem auch eine grosse Dose Farbe stand. Und die flog dann Barb ins Gesicht und erschlug sie beinah. Dort begegnete ich dann auch Shawn. Er nahm Andrea mit. Da war nichts mehr zu machen. Aber Shawn sah echt cool aus. Nicht nur weil er mit zu zwinkerte. Auch wegen seiner beiden Flügel.

Das waren voll krasse Ferien. Ich hätte nicht gedacht, dass ich auch noch einen echten Engel zu Gesicht bekäme. Aber so war’s. Es war beinahe schade als meine 14 Tage um waren. Ich hätte gern noch ein paar unglaublich dämliche Hirsel abgeholt. Und ich erinnerte mich nur ungern an meine eigene Dämlichkeit wie ich unter dem Laster gelandet war. Und ich hatte auch null Bock auf meinen Vater, der mir dann wieder Vorhaltungen über Looser und so machen konnte. Aber die Zeit lief auch in der Academy gnadenlos weiter. Und so verabschiedete ich mich tränen und alkoholreich von meinen 4 Kollegen. Coco musste noch 6 Monate aushalten. Susi noch 5 Tage. Tanja war auf ewiges Koma verdammt. Ich fragte sie mal, was mit ihr geschehen würde, wenn ihre Eltern die Maschinen abstellen würden. Sie zuckte nur frustriert die Achseln. Pete war schon vor 6 Tagen gegangen und Gregory durfte noch 2 Tage bleiben.

Den Weg zurück kannte ich ja jetzt. Zum Krankenhaus hätte ich mich allerdings beinahe verlaufen. Aber dann stand ich vor meinem Bett. Am Empfang hatte die aktuelle Lady mir ein kleines Fläschchen ausgehändigt. Es sah aus wie ein Party-Shot. Ich würde das jetzt runterkippen und das würde mich wieder in meinen Körper beamen und somit raus aus dem Koma. Ich war mir nicht sicher. Keiner hatte mir gesagt, was geschehen würde, wenn ich es nicht trinken würde. Da kamen meine Eltern herein. Mama war voll verheult und Papa sah auch nicht gerade locker aus. Er setzte sich an mein Bett und hielt meine Hand. Mama hatte einen CD-Player mitgebracht und spielte einen meiner Lieblingssongs. „Liebes, ich bin sicher es stimmt was sie sagen und du kannst uns hören.“ hörte ich meinen Vater über seine bleichen Lippen sagen. Und ob ich euch höre! „Komm einfach zurück.“ Seine Stimme hatte etwas Flehentliches, das ich noch nie gehört hatte. Fand ich voll krass und echt gut.

Na dann waren das halt einfach die voll krassen Ferien gewesen. Shawn würde mir nie mehr aus dem Kopf gehen. So viel war schon mal sicher. Aber in der Academy zu bleiben war keine Option. Also setzte ich kurz entschlossen das Fläschchen an die Lippen. Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich erwachte im Krankenbett. Mein Vater hielt meine Hand. Ich drückte sie. Er sah mich an. Überrascht, erschrocken, aber keinesfalls freudig. Shit! Hätte ich den Shot bloss nicht runtergekippt! „Esther!“ rief er mit zittriger Stimme. „ich glaube sie ist aufgewacht.“ Ich blickte benommen um mich. Mama beugte sich über mich und küsste mich auf beide Wangen. Ich dachte meine Hand würde zerquetscht so sehr drückte mein Vater sie. Ich schloss die Augen und seufzte. Nur kurz. Ja die Ferien waren vorbei.

© Carolyn Pini, Juni 2009