ein kleiner Geist wandert durch die Welt…

erschienen in der Sammlung gruseliger Schauermärchen “Mitten unter uns” vom Sperling-Verlag, April 2010,   ISBN 978-3-942104-02-9

Ülengrü

In einem Bambuswald nahe am Ufer des Meeres lag ein Dorf das niemand kannte. Auch der Name des Meeres war unbekannt. Und schon gar nicht wusste man wie das Dorf hiess oder in welchem Land es war.

Doch in dem Dorf da lebte ein Geist. Er lebte unter den Menschen und fühlte sich soweit ganz wohl. Er trieb so seinen Schabernack mit den Leuten im Dorf und liess sich so dies und jenes einfallen. Er hiess Ülengrü, doch das wussten die Dorfbewohner nicht. Sie schimpften meist nur einen der ihren aus über ein vermisstes Kleidungsstück oder einen verlorenen Strumpf. Ülengrü sass dann meist auf einem Dachbalken oder im Ofen und lachte sich klammheimlich ins Fäustchen. Laut lachen durfte und konnte er nicht. Doch wer weiss, ob sie ihn überhaupt gehört hätten?

Doch an manchen Tagen sass Ülengrü am Strand vor dem Dorf und hörte das sanfte Rauschen des Bambus hinter sich und das rauschende Sanft der Meereswellen die sich in den Sand wühlten vor ihm. Dann war er melancholisch und sehr, sehr einsam. Denn er war der einzige Geist in diesem Dorf dessen Namen niemand kannte. Es gab auch keinen Weg hinaus aus dem Dorf. Und somit auch keinen hinein. Und in solch einsamen Nächten (meist waren es Nächte in denen er einsam war – und er wusste gar nicht so recht was die Nacht mit der Einsamkeit zu schaffen hatte) da hätte er schon oft gerne seinem Leben ein Ende bereitet. Aber Geister haben kein Leben das man beenden kann. Sie leben ewig. Das wurde Ülengrü dann jeweils schmerzlich bewusst.

Und Geister können keine Bambuswälder nieder holzen oder über das Meer schwimmen. Sie kommen nicht weg. Sie sind gefesselt an ihr Dorf. Die Häuser, die Menschen ohne Namen. Er hasste diesen Ort nun schon für viele Jahrhunderte. Die namenlosen Menschen kamen und gingen. Er und niemand wusste so genau woher und wohin. Doch was kümmerte es ihn? Keiner wurde ein Geist.

Das brachte ihn nach etlichen tausend Jahren auch ins Grübeln. Da sass er nun schon schabernacktreibend oder melancholisch ins mondlichtige Wasser stierend für tausende von Jahren da und sie kamen und gingen. Kein gleicher zweimal. Und doch kam nie ein anderer Geist.

So kam er auf die Idee er wolle herausfinden woher sie kamen. Und wenn das allenfalls nicht ginge, wohin sie gingen. Er wollte, ja musste! Auch gehen. Doch wohin sollte ein Ülengrü gehen? Aus einem Dorf in einem Land ohne Namen? In ein anderes Dorf in ein anderes Land ohne Namen? Das machte sogar für einen Geist nur wenig Sinn. Doch ein paar Versuche war es wert, oder?

So kroch Ülengrü hinein in eine schwangere Frau und sah sich dort um. Doch es war nur heiss und wässrig dort und Platz hatte er auch kaum. Das war kein guter Ort für einen wie Ülengrü. Er schlüpfte in den Leichnam eines alten Mannes der nachts während Ülengrü am Strand sass gestorben war. Doch der Leichnam war leer. Sie war so unwirtlich und schleimig, matschig wie der Bauch der Frau. Das schien ihm auch kein guter Ort.

So waren die beiden naheliegenden Versuche den Eingang und Ausgang des Lebens im Dorf zu ergründen gescheitert. Er suchte und suchte, schon recht hoffnungslos drob werdend, was es denn noch gäbe. Da sah er ein hübsches kleines Mädchen mit lustig wippenden Zöpfen. Mit einem verschmitzten Lächeln sprang er hinter sie und schwups in sie hinein. Da sass er nun. Ein Geistlein Ülengrü im Körper eines Mädchens. Sie schüttelte sich kurz, bemerkte sonst aber nur sehr wenig.

Und so sass Ülengrü in ihr drin und schaute raus. Aus ihren Augen. Er sah, wie einige erwachsene Dorfbewohner zurückschreckten als sie ihn da drin sitzen sahen. Aber er fand es soweit ganz wirtlich. Als er ein kleines, feines Stimmchen hörte. „Ülengrü!“ rief es. Er sah sich erschrocken um. Wer konnte seinen Namen rufen? Niemand von den Namenlosen kannte ihn! „Ülengrü!“ rief das glockenhelle Stimmchen wieder. Foppte ihn seine über tausendjährige Erinnerung? Doch dann sah er es. Es? Sie? Was war es?

„Ülengrü! Du hast mich gefunden!“ Gefunden? Was um Himmels willen hatte er gefunden? „Du bist aber hässlich Ülengrü!“ „Was heisst hier hässlich!?“ wetterte Ülengrü erbost. „Zeig dich selber, du musst ja noch hässlicher sein sonst würdest du dich nicht verstecken hinter diesem Licht das mich blendet!“ „Ach Ülengrü! Du hast so lange gewartet und nun bist du so ungeduldig? Und ich habe so lange auf dich gewartet!“ piepste das Stimmchen. „Gewartet?“ verdattert, verständnislos – entgeistert – starrte Ülengrü auf das helle Licht, fast schon ein Stern, vor ihm. Dieses Licht sprach mit ihm!

„Ich nehme dich jetzt mit, Ülengrü! Nachdem du mich endlich gefunden hast!“ und das Licht ergriff von ihm Besitz. Es begann erst ihn zu umschmeicheln, dann wurde es aggressiver und durchdrang jede seiner nebligen Poren des Nichts. Ihm schwanden die Sinne. Von Ferne hörte er aufgeregtes Rufen. Irgendwie fühlte er wie alles wankte und er auf einmal kopfüber lag. Das Licht frass ihn auf. Das entsetzte Rufen drang dumpf zu ihm durch. Und das letzte was er hörte war das Schluchzen einer Frau die ihn anblickte durch die Augen des Mädchens während er vom Licht aufgefressen wurde.

Und dann war es Dunkel. Sehr, sehr dunkel. Er konnte sich nicht bewegen. Und da war noch etwas anderes das ihn umschlungen hielt. Und etwas das sich von der Umschlingung löste. Es löste sich auf und weg. Und sanft, wie ein federleises Schweben kam etwas aus dem dunklen Nichts herniedergesunken auf ihn und dieses andere. Und wieder schien Ülengrü als ob er sich auflöse.

„Mami wo hast Du meinen anderen roten Socken?“ Melissa hüpfte auf einem Bein mit einer roten Socke bestrumpft auf und ab während das unbestrumpfte Füsschen in der Luft daneben baumelte. Ihre Zöpfe wippten gleichermassen fröhlich umher. „Ich weiss nicht, Melissa. Ist er denn nicht im Sockenkorb?“ Die Mutter lächelte kopfschüttelnd ihren kleinen ungestümen Wicht an. „Du hast nicht richtig geschaut.“ Melissa hüpfte von dannen und kramte noch einmal erfolglos im Sockenkorb. „Da ist er nicht! Hat ihn die Waschmaschine gefressen?“ Die Mutter grinst. „Ich denke das war vielleicht wieder einmal der Ülengrü?“ Melissa hüpfte freudig umher, fischte im vorüberhüpfen eine grüne Socke aus dem Korb, setzte sich auf den Boden und stülpte ihrem linken, nackten Fuss die grüne Socke über.

„Ülengrü, Ülengrü, Ülengrü..“ summte sie freudig vor sich hin während ihr der Schabernack aus den Augen blickte. Draussen stürmte es und Schneeflocken trieben sich durch das Immergrün des Bambus vor dem Dorf. Am liebsten würde sie sich hinter dem, oder warum nicht gleich im, Ofen verkriechen und nicht zur Schule gehen. „Ülengrü, Ülengrü, Ülengrü..“ summte sie und zog die Stiefel an. Niemand würde sehen dass sie eine rote und eine grüne Socke trug. Im vorbeiflitzen zur Türe gab sie der Mutter einen Abschiedskuss. Draussen wartete bereits Elena auf sie. Sie hatte schon den Finger an der Klingel als Melissa die Tür aufriss. Die beiden Mädchen hakten sich unter und zogen schwatzend und lachend durch das lustige Schneetreiben.

„Weisst Du Elena, bei uns gibt es einen Geist Ülengrü der Socken frisst!“ sagte Melissa und bog sich schier vor Lachen während sich Schneeflocken in ihren Mund verirrten. „Ülengrü! Cooler Name!“ meinte Elena und grinste vor sich hin. „Wir haben für unseren keinen Namen. Meist kriegt mein grösserer Bruder das ab was bei euch dein Ülengrü ist.“ Melissa versuchte eine Schneeflocke mit der Zunge einzufangen, während ihr Blick auf die graue, aufgepeitschte See schielte. „Ülengrü hört sich so einsam an. Bin ich froh heiss ich Melissa!“ Und lachend traten die beiden Mädchen über die Schwelle der Schulhaustüre und wurden von Wärme und mehr Lachen und Schwatzen der Schüler die wie eifrige Ameisen durch die Gänge zogen.

© Carolyn Pini, Juli 2005